An diesem Stromkasten passt einfach alles: Farblich passt er sich perfekt an die Hauswand an, thematisch an seinen Standort die Singerstraße (findet ihr auf Google Maps unter den Koordinaten X33H+G2M Erfurt). Das ist doch die Definition von „satisfying“. Allerdings beziehen sich die Straße und der Stromkasten vermutlich auf zwei verschiedene Singer. Lasst es mich für euch aufdröseln: Die Stromkastenkunst bezieht sich offensichtlich auf die Singer-Nähmaschinen, erfunden von Isaac Merritt Singer. Der New Yorker begann 1830 eine Lehre als Maschinist, entdeckte aber nach vier Monaten seine Liebe zum Theater und zog Jahre lang als Schauspieler durch die USA. Doch die Maschinen ließen ihn nicht los: Neben der Schauspielerei arbeitete Singer als Mechaniker, erfand eine Gesteinsbohrmaschine, eröffnete eine Werkstatt für Holzlettern für den Druck, wo er wiederum einen Holz- und Metallschneider erfand. Und schließlich sollte er die erste funktionstüchtige Nähmaschine bauen. Mit diesem Patent gründete er die „I.M. Singer Company“ in Boston, die sich schnell zum größten Nähmaschinenproduzenten der Welt entwickelte und Singer ein Vermögen verschaffte. Die mit vergoldeten Ornamenten verzierten Geräte (s. unser Stromkasten heute) wurden weltberühmt und zum Vorläufer der modernen Nähmaschine.
Doch warum sollte eine Erfurter Straße nach einem New Yorker Maschinist benannt sein, der zwar einen deutschen Vater hatte (der Name „Singer“ soll vom deutschen „Reisinger“ abgeleitet sein) und dessen Nähmaschinen auch in Deutschland bis 1982 hergestellt wurden, ansonsten aber reichlich wenig mit Deutschland am Hut hatte?
Tja, damit sind wir beim zweiten Singer dieser Geschichte angekommen. Höchstwahrscheinlich ist die Erfurter Straße nach dem deutschen Politiker Paul Singer benannt. Seine Bedeutung für die deutsche Geschichte lässt sich gut anhand seiner Beerdigung aufzeigen: Der Trauermarsch am 31. Januar 1911 war einer der größten in der Geschichte Berlins; fast eine Million Menschen kamen zu seiner Beisetzung. Darunter viele Arbeiter:innen, denn Paul Singer war eine bedeutende Persönlichkeit der deutschen Sozialdemokratie im Kaiserreich. Er war Mitbegründer des „Demokratischen Arbeitervereins“ in Berlin und organisierte nach seinem Eintritt in die SDAP (Vorläufer der SPD) 1869 die Verbindung zwischen der deutschen Parteispitze und Karls Marx sowie Friedrich Engels. 1883 wurde er trotz antisemitischer Verleumdungen (Singer war Jude) in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt. Schließlich gehörte er über 25 Jahre dem Reichstag als Mitglied und Fraktionsvorsitzender an. 1886 wird er aus Berlin ausgewiesen, weil er über einen Polizeiagenten berichtet, der plante als Sozialdemokrat getarnt Arbeiter zu terroristischen Anschlägen zu verleiten. Seine Ausweisung gipfelt in Protestkundgebungen der Arbeiter:innen gegen die „Sozialistengesetze“. Nach dem Ende dieser leiten Singer und August Bebel die nun umbenannte SPD fast 20 Jahre als Vorsitzende.
Issac Merrit und Paul Singer hinterließen höchst unterschiedliche Spuren auf ihren Lebenswegen. Und doch kreuzen sich diese Wege am Stromkasten in der Singerstraße. Und nicht nur das: Vielleicht wäre die Damenmäntelfabrik von Paul und seinem Bruder ja ein gutes gemeinsames Gesprächsthema für die beiden gewesen.
Eins ist aber sicher: Paul Singers Namensvetter und Hedgefont-Verwalter Paul Elliot Singer ist wohl in keinem der beiden Fälle gemeint…