Auferstandene Nächte

von Patrick Schön

Wir mühten uns schwankend die enge Treppe zu Bens Apartment hinauf; die Hände fest am Geländer. Wir versuchten leise zu sein, denn er wollte seine Nachbarn nicht verärgern, und als wir an seiner Wohnungstür angekommen waren, beleuchtete ich für ihn das Schlüsselloch mit dem Handy. „Scheiße, wenn ich erstmal pissen war, dann schaue ich mal, was ich noch so im Kühlschrank hab.“ Ben und ich hatten uns auf der Kerwe gut betrunken und es war bereits weit nach zwölf, als wir uns in der Küche an den Tresen lehnten und brüderlich eine durchgemischte Fressplatte mit allem zusammenstellten, was seine Vorräte so hergaben. „Ich hab auch noch etwas Bier.“

„Ja, gib her.“

„Scheiße, ich werde morgen den Kater meines Lebens haben.“ Wir stießen lautstark an und machten uns danach über die Häppchen her. „Das sind die Gurken, von denen ich dir erzählt hab. Eingelegt in irgendeinen Sirup mit Raucharoma, keine Ahnung, sind ein bisschen scharf, aber einfach geil.“

„Hui, bisschen scharf ist gut.“

„Stell dich nicht so an.“

„Ajo, halt doch erstmal die Schnauze und gib mal den Ketschup her.“ Ben lachte sich eins ins Fäustchen und machte im Wohnzimmer den Fernseher an. Wir konnten von der offenen Küche aus die Zusammenfassung der Samstagspiele sehen. „Meine Fresse, hast du eigentlich diese Scheiße mit den Hooligans mitbekommen, die das halbe Stadium abgefackelt haben?“

„Ich frag mich echt manchmal, wie abgefuckt muss man sein, um sowas abzuziehen.“

„Nur halb so abgefuckt wie diejenigen, die dich aus der Kloschlüssel zusammen gekratzt und großgezogen haben.“ Ich warf ihm eine Gurkenscheibe an den Kopf und er vergalt es mir mit einer Tomate. Ich deutete an, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, und er ging zuckend in Deckung, danach lachten wir über eine Zeitlupe im Fernsehen: „Als hätt er sich eingeschissen.“

„So wie der den geköpft hat, hat er das auch.“ Wir zogen Grimassen und tranken unser Bier aus. Ben ging an den Kühlschrank, um noch zwei Dosen zu holen, als ihm die Senftube aus der Tür auf den Boden fiel. „Alter, warum gibt es eigentlich kein Getränk mit Senfgeschmack?“

„Warum sitzt du nicht mit ‘ner Zwangsjacke in der Gummizelle?“

„Warum liegt hier Stroh?“ konterte er gleich und warf mir eine der Dosen zu, die ich mit ganzem Körpereinsatz fing.

Die Sportnachrichten waren vorbei und der Sprecher begann von Afghanistan oder Irak zu sprechen, also schaltete Ben auf einen Musiksender. Zurück an der Theke  leerten wir die Fressplatte und hoben angestrengt die geworfenen Gurken und Tomaten auf.  „Ohne Scheiß“, setzte ich an, „hast du die Jill noch erkannt?“

„Ey, als ob ich noch Leute aus der Grundschule kennen würde.“

„Ja, die hat bei mir in der Nachbarschaft gewohnt, aber ich hätt sie nicht mehr erkannt.“

„Ja, ich hass das, wenn Leute einen von früher noch kennen und ich selbst keinen Schimmer hab, wer die Pisser noch sind.“

„Ja, in dem Sinne haste ihr auch die Antwort an den Kopf geworfen.“

„Sorry, Mann. Hab nicht mal unhöflich sein wollen, aber du kannst nicht ‘nen Besoffenen anlabern und erwarten, dass ich mich noch an den Scheißknigge halte.“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaub du hättest Chancen bei ihr gehabt.“

„Scheiß auf die“, gab er genervt zurück. „Ich mag’s einfach nicht dumm angelabert zu werden und den Leuten alles aus der Nase ziehen zu müssen und außerdem bin ich auf der Kerwe nicht grad auf Brautschau.“

Ich räumte den leeren Teller in die Spüle und überlegte, ob ich hier auf dem Sofa schlafen sollte oder den Heimweg antrat. Der Fußmarsch zu ihm durch die Kälte hatte mir zunächst gut getan, der Alkoholrausch schien aber nun noch stärker zurückzukehren. „Ich find trotzdem, du warst gemein zu ihr. Immerhin wollte sie nur kurz Hallo sagen.“

„Ja, ja, lass jetzt gut sein.“ Wir ließen uns im Wohnzimmer nieder. „Kennst du noch Sascha aus der Scholl-Schule?“ fragte er mich.

„Der, der immer mit Aron und dem anderen abgehängt hat?“

„Ne, der andere.“

„Keine Ahnung im Moment.“

„Na, is‘ ja auch egal. Der kleine Wichser ist mir letztens im Rewe über den Weg gelaufen und hat auch gleich angefangen von wegen Klassentreffen oder wie krass es doch wäre, dass sich alle so übelst aus den Augen verloren hätten oder sonstwas. Haben die alle kein Leben, dass sie der Schulzeit so viel Bedeutung beimessen?“

„Keine Ahnung.“

„Sorry, aber ich brauch das nicht, und dann textet der mir auch noch auf Insta, um den Kontakt nicht zu verlieren. Scheiße.“

„Hast du geantwortet?“

„Schon, natürlich. Sascha war immer in Ordnung, aber im Moment – keine Ahnung. Ich hab den Eindruck, dass er ein bisschen einsam ist.“

„Scheiße, die Sorte kenn ich. Texten einen immer zu was man am Wochenende vorhat und ständig musst ich mir neue Ausreden einfallen lassen.“

„Bei Sascha?“

„Nee, der Erik. Ab und zu konnt man gut mit dem abhängen, aber der war doch sehr anhänglich und grundsätzlich doch ein richtiger Hurensohn, so wie der von anderen Leuten denkt und redet.“

„Alter“, sagte er kopfschüttelnd. „Lass doch gut sein. Beschwer dich nicht darüber, wie ich mit der vorhin auf der Kerwe geredet hab, wenn du jetzt so hier über den Erik herziehst, wo er sich nicht mal mehr wehren kann.“

„Sorry, war nicht so gemeint.“

„Ach, Scheiße, hör mir doch auf.“ Er leerte sein Bier und ging ins Badezimmer. Als er zurück kam, murmelte er immer noch vor sich hin. „Was haste denn jetzt auf einmal?“ Ben stand am Kühlschrank, holte sich noch ein Bier und blieb dann am Tresen stehen. „Du weißt schon, dass der Erik letzten Sommer auf der Wegscheide verunglückt ist?“

„Was?“                

„Haste das nicht gewusst?“

„Wovon redest du?“

„Erik ist tot. Ist mit dem Auto von der Straße gekommen und hat sich überschlagen. Die haben ihn zwar ins Krankenhaus gebracht, aber der war da schon tot.“ Ich war erschrocken und hätte fast die Bierdose fallen gelassen; es traf mich wie ein Schlag in Magen und Gesicht. „Ich hatte ja keine Ahnung“, stammelte ich.

„Tut mir leid“, sagte Ben und kehrte zum Sofa zurück. „Ich dachte, du wüsstest das alles schon. Gut“, fügte er mit einem verständnisvollen oder ironischen Ton hinzu, „ich dachte auch, ihr wärt gute Freunde gewesen. Wusste nicht, wie das wirklich war.“ Seine Worte schnürten mir den Hals zu und ich rang nach Luft; nahezu nüchtern stolperte ich zum Balkon und riss die Tür auf.

Draußen ohrfeigte mich die kühle Oktoberluft und sie schnitt sich brennend in meine Lunge. Benommen von Schuldgefühlen und dem Alkohol umklammerte ich das Geländer, noch immer sinnfreie Entschuldigungen vor mich her murmelnd. Ben war aufgestanden, um nach mir zu sehen. „Tut mir leid“, wiederholte er sich. „Ich dachte wirklich, du wüsstest das.“

„Nein, ich hatte keine Ahnung.“

„Na, gut. Das erklärt auch deine Ausdrucksweise. Ich mein, ich war auch kein Freund von ihm, aber über Tote und so spricht man ja nicht schlecht.“

„Ja, tut mir leid.“

„Nee, nee, alles gut bei mir. Ich dachte bloß kurz, du wärst – nee, alles gut. Komm rein und trink etwas Wasser.“

„Weißt du, ich hab die Besuche immer vor mir hergeschoben.“

„Ja, klar. Ich kenn das.“

„Autounfall, sagst du?“

„Ja, an der Wegscheide. Da kracht es immer wieder mal.“

„Fuck. Scheiße.“

„Jetzt komm wieder rein und trink etwas Wasser.“ Ich machte mich wenig später auf den Heimweg. Ich konnte nicht glauben, dass ich Eriks Nachrichten schon so lange ignoriert hatte. Ich war einfach davon ausgegangen, dass er es zum Schluss einfach aufgegeben hatte, andere – bessere Freunde gefunden hatte und irgendwie war ich froh darüber gewesen nicht mehr von ihm zu hören.

Gelegentlich hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt ihn mal wieder zu besuchen, dieses Vorhaben aber wieder verworfen, weil er mir sicherlich indirekt Vorwürfe gemacht haben würde, dass ich mich so lange nicht bei ihm gemeldet hatte.

Als ich mich von Ben verabschiedete, glaubte ich in seinem Blick einen Ausdruck gesehen zu haben, den er mir gegenüber noch nie aufgelegt hatte. Er sah direkt durch mich hindurch, dann in mich hinein und dann vorbei. „Mach’s gut und komm gut heim“, hatte es geheißen. Aber was bedeuten diese Floskeln schon, wenn man sie jedem hinterher ruft, nur um höflich zu sein, und was bedeutet Höflichkeit, wenn sie nur als Ausrede dient, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden.

Ein vorbei fahrendes Auto voller feiernder Kerwebesucher riss mich kurzfristig aus meinen Gedanken. Es hielt einige Meter vor mir und der Beifahrer riss die Tür auf und übergab sich kniend auf dem Bürgersteig. Aus dem Wagen kamen Gelächter und sorgenvolle Fragen nach seinem Wohlbefinden. Eine junge Frau stieg ebenfalls aus dem Wagen und kam zu ihm. „Hey, wird schon wieder alles gut“, vergewisserte sie ihm. „Ich mach dir daheim erstmal was zu essen und dann kannst du die Übelkeit wegpennen.“ Sie half ihm auf und zurück in den Wagen.

Bevor sie selbst einstieg, sah sie mich, sie war auch angetrunken und gestikulierte, als sie mich ansprach: „Tut mir echt leid. Sie wohnen doch nicht hier, oder?“ Für einen Moment dachte ich, ich würde sie kennen. Die Beifahrertür ging wieder auf und der angeschlagene Kerl trat wieder aus dem Wagen. Er versuchte etwas zu seiner Verteidigung zu sagen, stürzte aber gleich wieder auf die Knie und spie krampfhaft Galle aus. Ich schüttelte sachte den Kopf. „Nein“, antworte ich. „Ich wohne hier nicht und kenne die Leute auch nicht.“ Dann ging ich weiter.

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