Nachtschatten

von Patrick Schön

Es war nachts und ich stand am Fenster. Es war dunkel, nur etwas Straßenlicht kam von außen hinein.  Kühle Luft kam in das Wohnzimmer, der Fernseher war ausgegangen und Paula krümmte sich schlafend auf dem Sofa. Wir hatten uns eine Sendung angesehen, irgendwas über Naturvölker und dabei waren wir eingeschlafen. Ich lehnte mich aus dem Fenster, um in den unbewölkten Sternenhimmel zu blicken, als mich die Lichter eines entfernten Flugzeugs fesselten. Ich beobachtete, wie es über den Horizont raste, und dachte dabei an unseren kommenden Urlaub in Neuseeland.

Hinter mir regte sich Paula auf dem Sofa im Schlaf. Ihre Knie knackten und dann hörte ich, wie sie barfüßig über den Parkettboden lief. Ich drehte mich um und sah, wie sie durch den Raum ins Nebenzimmer ging. Ich hatte Durst. Auf dem Couchtisch standen noch unsere Teetassen und ich wollte gerade nachsehen, ob noch etwas übrig war, als ich vor Schreck einen Grunzlaut ausstieß und zurück ans Fenster taumelte. Paula lag auf dem Sofa; ihre Füße baumelten über den Rand und ihre braune Lockenmähne hing ihr tief ins Gesicht. Sie schlief fest und ihre Brust hob sich sachte bei jedem Atemzug.

Mit pochendem Herzen stand ich am Fenster und bemühte mich, mich zu beruhigen. Ich musste meinen Schatten für sie gehalten haben und sie unerwartet noch immer auf dem Sofa vorzufinden, hatte meine Sinne überrascht. Leise trat ich zu ihr und nahm eine der beiden Tassen, in der ich noch etwas Flüssigkeit erkannte. Der Tee war kalt und einige kleinere Kräuter schwammen lose herum. Ich ging in die Küche, um die kleineren Fussel dort auszuspucken. Ich wusch die Tasse bei der Gelegenheit aus und suchte das Bad auf.

Ich horchte in die Stille der Nacht und hörte vorbeifahrende Autos und entfernt ein Glockenspiel im schwachen Wind erklingen.

Ich betätigte die Spülung, wusch mir die Hände und sah bei schwachem Lampenlicht in den Spiegel. Mein Gesicht kam mir etwas seltsam vor. Vom Schlaf zerknautscht und irgendwie unproportional. Ich zog Grimassen, wie als ob ich sonst nicht sicher sein könnte, dass ich es selbst bin und umso länger ich in den Spiegel sah, desto fremder erschien mir der Mann in der Reflexion.

Ich überlegte, ob ich Paula wecken sollte, damit sie nicht die ganze Nacht auf dem Sofa verbrachte. Zurück im Wohnzimmer schien mir ihr Schlaf aber zu fest und erholsam, um sie aufzuwecken, und ich wanderte im Dunkeln in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Im Hochsommer kamen gelegentlich üble Gerüche aus den Abflüssen, die mir nicht selten den Appetit auf das Leitungswasser verdarben. Der Sodaspender war mir jedoch zu laut und um Paula nicht zu wecken, trank ich ein halbes Glas aus dem Hahn.

In der Finsternis verschätzte ich mich jedoch mit der Theke und stellte das Glas dicht an den Rand. Ich kegelte es bei der nächsten Bewegung zu Boden. Der Knall war laut und ich hatte gehört, wie es in mehrere Teile zersplittert war. Reglos stand ich in der dunklen Küche und hörte, wie sich Paula im Wohnzimmer bewegte. „Super“, flüsterte ich mir zu. Wieder hörte ich das Geräusch barfüßiger Schritte über den Parkettboden. „Äh, pass bitte auf. Ich habe hier Glassplitter in der Küche, mir ist ein Glas runtergefallen. Ich will erst Licht machen.“ Ich tastete mit den nackten Zehen nach einem sicheren Weg zur nächsten Lichtquelle als Paula im Türrahmen erschien. Ihre Augen weit aufgerissen, der Ausdruck aber völlig leer und sie verzog keine Miene. Sie sagte nichts, gab keinen Laut von sich und ihre Arme hingen regungslos herab. Ich hörte nicht einmal ihr Atmen. „Pass bitte auf, hier sind überall Glassplitter.“ Ihre lidlosen Augen starrten vor sich hin. „Darling, geht es dir gut? Stimmt etwas nicht?“ Noch immer keine Reaktion. Mir kam der Gedanke, dass sie schlafwandelte. Darüber weiß ich sehr wenig, nur dass es nicht von heute auf morgen bei Personen anfängt, sondern es eine lange medizinische Vorgeschichte gibt. Seit ich sie kenne, neigte sie zu unruhigen Bewegungen im Schlaf, nie aber hatte ich beobachtet, dass sie im Schlaf aufgestanden wäre. Der Anblick ihrer Augen paralysierte mich für kurze Zeit. Im Dunkeln hätte ich sie für eine Statue halten können. Langsam wurde ich wieder Herr meiner selbst und beschloss von der Küche ins Wohnzimmer zu gehen, um dann in den Korridor zu gelangen, um sie langsam und behutsam weg vom Kücheneingang und den Scherben und Splittern wegzuführen.

Langsam schob ich einen Fuß nach dem anderen, immer wieder Ausschau nach Paula haltend, dass sie bloß nicht in die Küche ging. „Ich komm und hol dich. Bleib wo du bist.“ Dann fuhr ein Auto in rascher Geschwindigkeit auf die Kreuzung zu. Die Scheinwerfer warfen zwei helle Lichtkegel in die Küche und huschten eilig über Paulas Gesicht. Erst jetzt erkannte ich, dass ihre Mimik nicht so ausdruckslos war, wie ich in der Dunkelheit vermutet hatte. Sie machte einen gequälten Eindruck, als halte sie unter Zwang still, und fürchtete sich vor jeder noch so kleinsten Regung. Sie musste im Halbschlaf schon in eine der Scherben getreten sein.

Rasch trat ich ins Wohnzimmer und dabei in mehrere kleinere Splitter. Ich knipste das Licht an. „Ah!“ Paula stöhnte und drehte sich zur Seite. Sofort legte ich den Lichtschalter um, damit sie das Licht nicht aus dem Schlaf riss, als ich meinen Irrtum bemerkte. Erneut schaltete ich das Wohnzimmerlicht ein und sah sie auf dem Sofa liegend, schlafend und den Kopf in die Kissen vergraben. „Bist du in eine Scherbe getreten?“ Ich ging zu ihr und griff nach ihren Füßen. Sie waren unverletzt. Ich sah mir beide Fußsohlen genau an, strich mit den Fingern drüber. „Nein“, murmelte sie verschlafen. „Lass mich, lass mich.“ Sie strampelte und ich ließ sie los. Ihre Haut fühlte sich kalt an, also deckte ich sie zu und schloss das Fenster.

Im Korridor angekommen schaltete ich das Wohnzimmerlicht aus und ging zurück ins Bad. Ich reinigte und desinfizierte meine Füße. Ich suchte Besen und Schaufel zusammen und kehrte in die Küche zurück. Blutige Fußabdrücke führten vom Eingang ins Wohnzimmer. Sie fingen dort an, wo Paula im Halbschlaf gestanden hatte. Sie musste im Dunkeln an mir vorbeigekommen sein, ehe ich sie beim Anmachen des Lichts auf dem Sofa wiederfand und sie musste definitiv in Scherben getreten sein. Aus dem Wohnzimmer hörte ich sie wieder schläfrig vor sich her murmeln. „Nein, heute nicht. Jetzt lass –“ Ich kam mit schweren Schritten zurück ins Nebenzimmer und im dunklen Raum sah ich wie Paula auf dem Sofa mit einer zweiten Person rang, die sich auf sie geworfen hatte. Ich schaltete das Licht an und – „Was zur Hölle?“ Eine Doppelgängerin fiel über sie her und hatte den Anschein erweckt, als wolle sie ihr vampirgleich in den Hals beißen. Wobei mich der Anblick auch an eine Löwin erinnerte, die ihre Beute riss.

Im ersten Licht der Lampe riss sie die Zähne auf und gab ein höllisches Grunzen von sich. Sie vergrub sich in den Nacken meiner Paula, die jetzt in Panik um sich schlug. Sie griff auf dem Couchtisch nach allem möglichen, um sich zu wehren. Ich trat zu den Kämpfenden und versuchte, sie auseinander zu ziehen, doch in dem Chaos und mit der Decke dazwischen fiel es mir schwer zu begreifen, wo die eine anfing und die andere aufhörte. „Nein! Nein!“ Paula hatte zu voller Stimme gefunden und schrie und dann traf mich eine schwere Keramiktasse am Kopf. Benommen stürzte ich zu Boden, schlug mir das Rückgrat an der Tischkante und den Kopf am Parkett auf. Mir wurde übel und ich sah nicht mehr scharf. Benommen kämpfte ich gegen die Ohnmacht an, richtete mich auf, nur um gleich wieder das Gleichgewicht zu verlieren.

Verschwommen sah ich, dass sich Paula aufgerichtet hatte. Sie stand auf dem Sofa und hielt eine Glasflasche unseres Sodastream in der rechten Hand. Sie hielt sie wie eine Waffe, mit der freien Hand zeigte sie auf mich. „Geh weg! Bleib weg von mir!“ Sie war panisch und desorientiert. Der Überfall hatte sie aus dem Tiefschlaf gerissen und offenbar hielt sie mich für den Angreifer.

„Da war eine Frau“, krächzte ich schwach. „Pass auf, wir sind nicht allein.“ Sie blickte hastig um sich, unsicher, ob sie mir trauen konnte. „Ich glaub, du musst die Polizei rufen.“ Sie kam von dem Sofa und sah sich im Wohnzimmer um. „Hier ist niemand.“

„Sie muss sich verstecken oder ist zur Haustür raus.“ Noch immer versuchte ich mich aufzurichten, aber mein Kopf fühlte sich nicht richtig an. Ich hatte das Gefühl etwas schob sich hin und her, wie das Klackern in einer Sprühdose. Ich hörte, wie Paula laut und provozierend in die Küche sprang und wie sie aufschrie, als sie in die Scherben trat. Ich brachte kein verständliches Wort mehr hervor, nur noch Kauderwelsch und die Geräusche hallten in meinem Kopf. Es war ganz typisch für Paula vom Adrenalin und der Verwirrung getrieben zum Angriff überzugehen. Ich vernahm bruchstückhaft, wie sie einer Löwin gleich die Wohnung durchsuchte. Einmal glaubte ich, sie hätte den Eindringling gefunden, denn ich hörte wieder ein Echo dieses höllischen Grunzens. Tatsächlich schien sie sich unter Schmerzen die Schnittwunden am Fuß zu behandeln. Das letzte, was ich sah, war wie sich über mein Gesicht beugte. Ihr Lippen formten Worte, die nur noch als bedeutungslose Laute zu mir durchdringen konnten.

Ich verbrachte die nächsten drei Tage wegen der Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Zunächst sollte ich nach einem Tag wieder gehen, doch wegen des anhaltenden Schwindelgefühls ließ man ein MRT machen und behielt mich zur Beobachtung noch dort. Paulas erste Besuche waren verschwiegen und sie verhielt sich unentschlossen. Die Ermittler warteten noch auf die Ergebnisse der Blutspurenanalyse. Es gab keine Spuren gewaltsamen Eindringens in die Wohnung und man war sich nicht einig, ob tatsächlich eine dritte Person in der Wohnung gewesen war. Paula hatte Bissspuren an Hals, Nacken und Schulter und auch wenn ich bei meiner Einweisung ins Krankenhaus kein Blut an Zähnen und Gesicht hatte, baten mich die Ermittler um mein Einverständnis einen Abdruck meines Gebisses machen zu dürfen.

Am Tag meiner Entlassung wurde Paula von ihrem Bruder begleitet. Im Auto saß sie hinten und sprach nur, wenn sie angesprochen wurde. „Sag mal“, fragte ihr Bruder. „Diese Frau, ja? Kanntest du die? Ich meine, sicher, dass es eine Frau war?“

„Ja, eine Frau. Aber keine Ahnung, wer sie war.“

„Sicher?“

„Ja.“

„Also keine verstörte Geliebte wie in diesen Filmen?“

„Ich habe keine Geliebte.“

„Man muss ja fragen dürfen, nicht?“ Er klang sehr misstrauisch. „Wie sah sie denn aus? Wie jemand den du kennst?“ Ich drehte langsam und mühselig den Kopf. Paula sah mich mit großen Augen an. Sie blickten mich furchtlos und auffordernd an. „Nein“, antwortete ich. „Ich habe keine Ahnung, wer das gewesen ist.“

„Und wer hat dich so zugerichtet? War das diese Frau oder -“

„Ich weiß es nicht“, unterbrach ich ihn. „Ab diese Frau war da.“

„Klar, jetzt reg dich ab, mein Freund. Wenn ein Verrückter versucht deiner Schwester den Kopf abzureißen, würdest du wohl auch eine Menge unangenehmer Fragen stellen, oder?“ Paula legte ihre Hand auf meine Schulter und ich langte danach. Ihre lidlosen Augen sahen mich lächelnd an, aber sie sagte nichts.

„Das war bestimmt eine Verrückte, die euch nach Hause gefolgt ist. Die Welt ist voll davon. Wer weiß was passiert wäre, wenn keiner von euch beiden wach gewesen wäre.“ Ihr Bruder setzte uns an einem Hotel ab. Paula fühlte sich in unserer Wohnung noch nicht sicher und gerne schloss ich mich ihrer Entscheidung an. Die ersten Nächte schlief ich nicht besonders gut. Auch wenn sie mir versicherte, dass es ihr gut ginge, war Paula sehr unruhig im Schlaf. Ich wachte mehrmals nachts auf, weil sie laute Grunzlaute von sich gab und mit starrem Blick in die Finsternis äugte. Sie beteuerte keine Alpträume zu haben und könne sich nicht daran erinnern aufrecht sitzend ins Nichts zu gucken. Wir kehrten nach zwei Wochen zurück nach Hause und Paulas Schlafprobleme besserten sich allmählich. Nachdem der Abgleich meines Gebissabdrucks mit ihren Wunden fertig und negativ war, löste sich auch die aufgebaute Distanz zwischen uns wieder auf. Wir setzten unsere Urlaubspläne fort und suchten zeitgleich eine neue Wohnung. Auch ich schlief wieder besser, auch wenn ich mir beim Einschlafen noch immer einbildete barfüßige Schritte auf dem Parkettboden zu hören.

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