Kurzsichtigkeit: Was man mit minus 15 Dioptrien sieht

Vom Sehen, Nicht-Sehen und Nicht-gesehen-werden

Ein Rauschen nähert sich. Zwei große, hellgelbe, sich überlappende Kreise kommen von links auf mich zu, werden immer größer. Ein Auto. Ich warte, bis es vorbeigefahren ist. Und jetzt? Ich muss über diese Straße, anders komme ich nicht ins Hotel. Zumindest nicht mit meinen begrenzten Ortskenntnissen von Mühlheim und der Routenplanung von Google Maps.

Ich schaue in die abendliche Dämmerung und versuche in der Kombination aus dunkel- und hellgrauen Tupfern eine Struktur zu erkennen. Bis wohin geht die Straße, wo kann ich gefahrlos stehen bleiben? In meiner Nähe scheint niemand zu sein, den ich ansprechen kann. Mein Puls steigt, in meinem Hals wird etwas eng.

„Aber ist das nicht gefährlich für dich?“ schreibt mir einen Abend zuvor eine Freundin. Gefährlich? Ich zucke mit den Schultern und schreibe, dass ich aufpassen werde, dass ich Autos und Ampellichter ja erkenne, und dass ich Menschen um Hilfe fragen kann. Das soll der Kern meines Experiments sein: mein Bedürfnis nach Autonomie herausfordern, mich bewusst in eine Situation bringen, in der ich Hilfe brauche.

Ab wann ist man blind?

Meine Kurzsichtigkeit verdanke ich erblich gesehen meinem Vater. Sturköpfig wie ich bin musste ich seine minus acht Dioptrien um fast das Doppelte toppen: Mein schlechteres Auge liegt aktuell bei über minus 15. Das können sich viele Menschen schlecht vorstellen. „Bist du dann blind?“ werde ich oft gefragt. Nein, bin ich nicht.

Nach deutschem Recht gilt als sehbehindert, wer trotz Brillen- oder Kontaktlinsenkorrektur nur auf 30 Prozent Sehschärfe kommt. Blindheit fängt demnach bei weniger als 2 Prozent an. Mit Brillengläsern, dick wie zwei Zwei-Euro-Münzen, oder Kontaktlinsen, teuer wie ein Monat WG-Miete, komme ich auf nahezu 100 Prozent, darf Auto fahren und fühle michkaum eingeschränkt.

Aber es ist eben nur eine mehr oder weniger dünne Schicht Kunststoff, die die scharfe von der unscharfen Welt trennt. Ein kleiner Unfall und meine Autonomie, wie ich sie kenne, wäre dahin. Oder eben ein kleines Selbstexperiment.

Hilfsbereite bunte Farbtupfer

Ich habe es auf eine kleine Verkehrsinsel geschafft. Jetzt kommen die Kreise, diesmal in Weiß, von rechts. Kann ich einfach geradeaus laufen, wenn ich nirgendwo leuchtende Kreise sehe? Stehe ich dann auf einem sicheren Fußgängerweg? Oder auf einer Nebenstraße, einem Radweg, vor einem Zaun? Ich sehe es nicht in der schwarz-blauen Aquarellwelt mit den weichen Farbübergängen vor mir. Und verdammt noch mal, weit und breit niemanden, der mir helfen kann.

Ganz anders als in dem Einkaufszentrum, aus dem ich komme. Überall tummeln sich dort diese bunten Farbtupfer mit einem hautfarbenen Ton im oberen Drittel. Zum ersten Mal überwinde ich mich im Drogeriemarkt einen davon anzusprechen. Er stellt sich als junge Frau heraus,die mir mit sanfter, warmer Stimmeerklärt, in welchen Regalen Duschgel und Shampoo stehen. Am Ende des kurzen Gesprächs spüre ich ein gezieltes zartes Drücken an meinem Arm, wie ein respektvolles Abschiedslächeln.

Solange ich mit Menschen spreche, ist alles so freundlich-distanziert wie immer. Nur wenn wir schweigen, fühle ich mich von ihnenabgekapselt, wie in zwei verschiedenen Welten. Und ich genieße es. Keine Blicke, die mich irritieren. Kein Handy beim Essen. Keine Vorurteile aufgrund von Äußerlichkeiten. Nur ich, mein gebratener Reis und meine Welt aus bunten Wattebäuschen. Ich bin bei mir, meinen Gedanken und Sinneseindrücken und genüge mir selbst.

Nichts zu sehen kann auch helfen

So sehr mich diese Sicht auf die Welt an verschlafene Sonntagmorgen im warmen Bett erinnert, so sehr stresst sie mich bei dem Versuch, sicher eine Straße ohne Ampel und Zebrastreifen zu überqueren. Endlich stehe ich an einer hellen Linie, die sich in der Ferne auflöst, und die ich als Brücke, autofrei und damit weitestgehend harmlos, identifiziere. Unter der Plastikschicht meiner Jacke staut sich die Hitze meines Körpers, ich atme tief durch.Schon am Morgen, mit Brille, habe ich etwas gezittert, als ich die Brücke überquerte.

Die Kombination aus Höhe, fahrenden Autos unter mir und Wind macht mich oft nervös. Jetzt also auch noch, ohne genau zu erkennen, was um mich herum passiert. Auf das Schlimmste gefasst laufe ich los.Und es passiert – nichts. Ich richte meinen Blick auf einen der gelben Lichtbälle in der Ferne, in dessen Inneren Punkte und Fäden tanzen, ein vertrauter Anblick. Mit sicheren Schritten und einem leichten Gefühl in der Brust gehe ich bis ans Ende der Brücke.

Durch meine Kurzsichtigkeit werde ich immer abhängig sein

Als ich ohne Google Maps erkenne, wo ich bin und wohin ich muss, steigt die Leichtigkeit aus meiner Brust in den Kopf und erfüllt mich mit Euphorie. Ich habe es geschafft. Allein. Selbstständig. Und weiß doch, wie abhängig ich immer sein werde. Von einem Stück Plastik vor meinen Linsen. Meinem Handy. Oder der Anwesenheit freundlicher Menschen.

Im Bett, dort wo die impressionistische Aquarellwelt hingehört, wo sie mich auf Ruhe und Innenschau einstimmt, denke ich nach: Sind meine Augen ein Mangel, ein Defizit, das möglichst behoben gehört? Der Gedanke, nach einer Operation immer scharf zu sehen, irritiert mich. Er beraubt mich einer Welt, die nur mir gehört. Einer Welt, in der ich mal mehr, manchmal aber auch weniger Angst habe als sonst. Vielleicht bin nicht ich falsch, sondern meine Umgebung passt nicht immer zu mir.So geht es Menschen mit einer Behinderung wahrscheinlich oft. Ich bin dankbar für die Möglichkeit, zwischen zwei Welten entscheiden zu können.

Die Straße, die mich ohne Brille fast zum Aufgeben gebracht hat.
Die Straße, die mich ohne Brille fast zum Aufgeben gebracht hat.

Für diese Reportage habe ich ein bereits auf diesem Blog beschriebenes Selbstexperiment verschärft wiederholt. Außerdem habe ich in der Zwischenzeit ein wenig Reportage-Training gehabt…

Beitrag erstellt 83

Kommentar verfassen

Ähnliche Beiträge

Beginne damit, deinen Suchbegriff oben einzugeben und drücke Enter für die Suche. Drücke ESC, um abzubrechen.

Zurück nach oben
Cookie Consent mit Real Cookie Banner