Vor zwei Wochen habe ich hier darüber geschrieben, wie es war, mit -15 Dioptrien ohne Sehhilfe durch den Tag zu kommen. Ich war sehr froh, als ich meine Brille am nächsten Tag wieder aufsetzen durfte. Sehbehinderte und blinde Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Wie es ist, als blinder Mensch in einer hauptsächlich von sehenden Menschen gestalteten Welt zu leben, und was es einfacher machen würde, darüber habe ich mit Vanessa Wagner gesprochen. Vanessa ist 21, Leistungssportlerin im Blindenjudo und Abiturientin an der Blindenstudienanstalt (Blista) Marburg.
Du bist Drittplatzierte bei den Europameisterschaften im Para Judo und im deutschen Team für die Paralympics. Für die Sehenden: Wie können wir uns das vorstellen? Woher wisst ihr, was der andere als nächstes macht? Was ist anders als beim Judo der Sehenden?
Grundsätzlich ist Judo sehr gut geeignet für Blinde, weil man immer in Kontakt mit dem anderen ist. Beim Sehenden-Judo hat man allerdings den Griffkampf, man kämpft also am Anfang darum, wie man den anderen greift. Das ist beim Blindenjudo nicht so, da hätte man ja keinen Kontakt und wüsste nicht genau, wo der andere ist. Deshalb macht man das nicht und greift direkt mit einer Hand oben am Revers und mit der anderen am Ärmel. Man darf den Griff auch nicht für längere Zeit lösen, außer, wenn man sofort eine Technik machen will, damit man immer weiß, wo der andere ist. Dadurch ist das Judo schon anders, vom Zuschauen sieht man sicherlich Unterschiede in den Bewegungen. Grundsätzlich ist es ja auch bei vielen sehenden Judoka so, dass sie irgendwann spüren, was der andere macht. So ist das auch bei uns, man spürt sehr viel.
Ich denke, einer der größten Unterschiede ist der Technikerwerb, weil man da wesentlich länger braucht. Der Trainer macht nicht einfach etwas vor und zack, man weiß wie es geht. Er muss es stattdessen an einem selbst vormachen und korrigieren. Man braucht da ganz viele verschiedene Methoden, um eine Technik zu erlernen, und das ist auch für den Trainer erst mal eine Herausforderung.
Werdet ihr von sehenden oder von blinden Trainern trainiert?
Unterschiedlich. Es gibt auch sehbehinderte Trainer:innen, hauptsächlich sind es aber sehende.
Du bist ja ziemlich erfolgreich in deinem Sport und scheinst darein viel zu investieren – zum Beispiel eine Schulzeitverlängerung. Wie viel Zeit nehmen Wettkämpfe und Training denn in Anspruch?
Ich war gerade erst beim World Cup in Alexandria. Da bin ich allerdings nur 7. geworden. Ich hatte etwas Pech mit der Auslosung – und an die richtig Erfahrenen komme ich auch noch nicht dran.
Wie viele wart ihr denn?
12. So viele sind es dann tatsächlich nicht, die wirklich blind und in meiner Gewichtsklasse sind.
Training sind ungefähr 25 bis 30 Stunden in der Woche, je nachdem, ob ich mich gerade auf einen Wettkampf vorbereite. Bis August ist jetzt erst mal kein Wettkampf mehr für mich. Ich schreibe Abi, da kann ich dann auch nicht so viel trainieren.
Hast du vor danach weiter Judo in dem Ausmaß zu machen?
Ja! Ich werde in Heidelberg studieren, da ist auch ein Olympiastützpunkt. Im Moment bin ich in Marburg, da ist auch ein gutes Nachwuchszentrum durch die Blista und den Lehrertrainer Markus Zaumbrecher. Der hat da viel für den Nachwuchs aufgebaut. Aber ich denke, wenn man dann erwachsen wird, dann muss man halt auch die Schule und das Training dort verlassen. Deshalb will ich jetzt zum Olympiastützpunkt in Heidelberg, wo die Para-Bundestrainerin ist, und dort auch trainieren.
Was ist für dich das Besondere an Judo? Was gefällt dir besonders gut daran?
Mir gefällt, dass man sich auspowern kann, aber trotzdem respektvoll miteinander umgeht. Ich finde die Werte von Judo sehr schön. Das man eine gewisse Verantwortung für seinen Partner übernehmen und zusammen Sport machen kann. Es hat für mich aber auch mit Vertrauen zu tun. Man muss dem anderen vertrauen, wenn man geworfen wird. Aber es hat für mich auch etwas von Freiheit und Unabhängigkeit. Denn wenn man nicht sieht, braucht man ja oft Hilfe. Die braucht man im Training zwar auch manchmal.
Aber wenn man dann wirklich kämpft mit seinen Techniken und seinem Gegner, dann kann man das eigenständig. Und das finde ich wirklich schön. Man ist halt auf der Matte, es ist etwas anderes als beim Sprinten oder so, da braucht man ja immer einen Begleitläufer oder muss irgendwie den Weg finden. Ich bin auf meiner Matte, kann mich dort bewegen, selbst die Richtung vorgeben und meinen eigenen Stil entwickeln. Das hat man oft nicht im Leben. Das finde ich am Judo sehr schön.
Du bist von Geburt an blind. Ist das für dich der Normalzustand oder vermisst du etwas?
Ich glaube, das ist wirklich der Unterschied zwischen Geburtsblinden und denen, die im Laufe ihres Lebens blind werden. Für mich ist das schon immer so gewesen und ich kann mir zum Beispiel keine Farben vorstellen, also kann ich die auch nicht vermissen. Was ich schon oft denke ist, dass es unpraktisch ist, oder dass ich es leichter hätte, wenn es nicht so wäre. Ich vermisse es nicht, weil ich es nie hatte und nicht kenne und keine Vorstellung davon habe. Wenn wir keine Ultraschalltöne hören können, vermissen wir sie ja auch nicht. So ist es bei mir eigentlich.
Wenn etwas stört, geht es also eher darum, dass alle anderen sehen können und ihre Welt auch danach ausrichten?
Ja. Es kommt halt auch darauf an, wo man ist. Wenn ich in meinem bekannten Umfeld bin, habe ich wesentlich mehr Tage, an denen ich gar nicht darüber nachdenke, weil einfach der Alltag läuft und ich alle Dinge finde, die ich finden will. Wenn ich woanders bin, wo ich neu bin, fällt es mir natürlich viel mehr auf, weil ich öfter nachfragen muss, wo was ist.
Welche Unterschiede erfährst du zwischen Blinden und Sehenden?
Ich glaube, die Unterschiede verändern sich auch mit dem Lebensalter. Mit Kindern ist es sehr schwer. Auf dem Spielplatz wurde ich oft nur angeguckt oder „die ist blind“ und so. Es war sehr schwer, mit denen zu spielen. Das wurde dann besser, je älter ich wurde, und je besser man miteinander reden konnte. Es werden dann ja auch andere Dinge wichtiger. Es ist jetzt für das soziale Umfeld nicht mehr wichtig, wie schnell du rennen kannst. Es geht jetzt viel mehr um die Persönlichkeit und die habe ich ja genauso wie die anderen.
Ein Unterschied ist natürlich die Bewegung. Jemand, der sieht, bewegt sich in den allermeisten Fällen einfach flüssiger, wenn er keine andere Behinderung hat, und kann die Umwelt wesentlich schneller erfassen. Sehende können sich auch in neuen Umgebungen sehr schnell orientieren, können einen Überblick über komplexe Sachen wie eine Kreuzung, aber auch eine große Tabelle haben und einfach sehr viel mehr Informationen aufnehmen. Das verändert natürlich das Verhalten, einfach dadurch, dass sie schneller sind, für alles kürzer brauchen, das merkt man auf jeden Fall.
Aber dafür sind halt auch andere Dinge nicht so ausgeprägt, wie zum Beispiel das Hören. Das ist bei vielen Blinden sehr viel genauer. Ungefähr die Hälfte der Blinden hat ein absolutes Gehör, kann also Töne in einem Notensystem direkt zuordnen. Das haben bei den Sehenden wesentlich weniger Menschen, weil es sich bei den Blinden mehr ausbildet. Man braucht die Tonhöhe viel mehr, wenn man nicht sieht. Zum Beispiel um mit der Zunge zu schnalzen und zu hören, von welchen Gegenständen der Schall zurückkommt. Man kann sogar unterscheiden, ob man Glas oder Stein hört, weil das Echo vom Glas härter zurückkommt als von Stein oder einer Gummimatte.
Das mit dem Überblick habe ich bei meinem Experiment auch gemerkt. Das war bei vielem viel anstrengender als mich zum Beispiel im Straßenverkehr zurechtzufinden.
Auf der Straße kommt es auch darauf an. Wenn du bekannte Wege gehst und vorher gesehen hast, dann brauchst du auch keinen Überblick, wie das aufgebaut ist.
Aufräumen in der Wohnung war auch kein Problem.
Ja, das sind alles Dinge, die du in dir abgespeichert hast. Schwieriger sind neue Situationen.
Was kannst du besser als Sehende? Offensichtlich hören?
Ja, aber ich denke, dass man auch auf andere Dinge mehr achtet. Zum Beispiel auf die Stimme des Gegenübers. Aber man kann das auch nicht so pauschal sagen. Viele Blinde haben soziale Schwierigkeiten, weil sie als Kinder wenige Freunde hatten und sich das nicht entwickeln konnte. Da hatte ich durch das Judo große Vorteile, weil ich in einem normalen Judo-Verein war und dort Kontakte hatte.
Es gibt oft Dinge, die nicht direkt mit der Blindheit etwas zu tun haben, aber trotzdem auftreten können. Zum Beispiel auch, dass Menschen Ticks entwickeln, mit dem Kopf wackeln zum Beispiel oder mit den Händen zappeln. Das passiert einfach, und wenn das keiner abgewöhnt und erklärt, dann bleibt es ein Leben lang. Und damit werden die dann halt auch abgestempelt. Obwohl sie vielleicht total intelligent sind, wird dann gesagt, derjenige sei ja geistig behindert oder „sei nicht soweit“. Man muss halt ganz viele Dinge lernen, die andere nicht üben müssen. Und da kommt es darauf an, wie gut das beigebracht wird.
In Marburg sind blinde Menschen und Infrastruktur für blinde Menschen ja vergleichsweise sehr präsent. Du wirst jetzt ja umziehen. Was wünschst du dir von einer Stadt?
In Heidelberg, wo ich hinziehe, ist mir aufgefallen, dass an den Bushaltestellen keine sprechende Ansage ist, wann welcher Bus kommt und dass auch die Busfahrer nicht laut sagen, welche Linie sie gerade fahren. Das sind Dinge, die helfen einfach. Wenn man nicht auf den Zufall hoffen muss oder darauf, dass irgendjemand, der gerade daneben steht, was sagt. Manchmal ist da ja auch niemand, wenn man zum Beispiel nachts fährt.
Es helfen auch Linien auf dem Boden, an denen man sich orientieren kann, Ampeln, die piepen, wenn es Grün wird. Aber vor allem auch Menschen, die darauf achten und Rücksicht nehmen möchten, Wege nicht zu blockieren. Oder einfach schauen, „was sind gerade die Bedürfnisse dieser Menschen und wie kann man das in die Stadt einbringen“.
Was wünschst du dir im Umgang von sehenden und blinden Menschen im gemeinsamen Zusammenleben?
Ganz wichtig ist, dass man einfach ein Mensch ist. Wir sind alle normale Menschen, der eine kann eben sehen und der andere nicht. Mitleid ist das, was die wenigsten brauchen. Es gibt da auch Unterschiede, manche stresst oder nervt das, aber ich finde es total nett, wenn man angesprochen wird, wenn man sich verfranzt hat, was denn ist, wo man hin möchte.
Es ist leider schade, dass es manche Blinde gibt, die sehr unfreundlich reagieren, wenn irgendjemand etwas nicht so Bedachtes gemacht hat. Das finde ich nicht gut. Wir denken in Schubladen, und wenn wir einen Blinden treffen, der unfreundlich ist, dann überlegt man sich vielleicht, ob man den nächsten überhaupt anspricht. Wir müssen einfach immer davon ausgehen, dass jeder Einzelne von uns die ganze Gruppe repräsentiert, weil es nicht so viele von uns gibt. Das müssen wir uns klar machen und versuchen, Rücksicht darauf zu nehmen, was die Sehenden in ihrer Welt haben und wie sie damit umgehen.
So sollten es die Sehenden eben auch machen. Also „hm, du bist jetzt das fünfte Mal über den Koffer gestolpert, das ist eigentlich doof. Dann stell ich den halt woanders hin, ich finde ihn auch woanders wieder“. Halt einfach bei so Kleinkram gucken. Dass man einfach schaut, wie man trotzdem oder gerade deswegen ein cooles Leben haben kann.
Mit meinen Mitbewohner:innen hab ich zum Beispiel mal mit Augenbinde gekocht. Für die war das auch eine ganz neue Erfahrung und Bereicherung. Und jetzt achten sie viel mehr darauf und stellen in der Küche viel weniger an einen anderen Platz, weil sie gemerkt haben, wie lange man da sucht. Solche Sachen finde ich cool.