Ein Kommentar von Dominik Hechler.
Im vergangenen Jahr wurde das Wort Remigration vor Sozialklimbim und Heizungs-Stasi zum Unwort des Jahres gewählt. Diese Wahl wird jedoch nicht von einer Bevölkerungsgruppe oder einem ständig wechselnden Gremium getroffen. Der Verein „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“ aus Marburg in Hessen besteht aus fünf festen Mitgliedern, die zuletzt im Jahr 2020 gewechselt haben. Dazu kommt jeweils ein kooptiertes Mitglied, das jährlich wechselt.
Diese sechs Mitglieder bestanden 2023 aus vier Sprachwissenschaftler:innen, einer Journalistin und einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten der CDU. Sie haben sich schließlich dazu entschlossen, dass Remigration das Unwort des Jahres sein soll. Aber warum eigentlich?
Damit ein Wort zum Unwort des Jahres gewählt wird, muss es jemand vorschlagen. Diese Vorschläge können auch von anderen Menschen kommen. Der Verein gibt daher in der Regel bekannt, wenn Begriffe öfter eingesendet wurden. Häufigere Begriffe waren letztes Jahr Remigration und kulturelle Aneignung, aber auch Lehnwörter wie Gamechanger.
Die häufigsten Einsendungen waren jedoch Sondervermögen (62 Einsendungen), Kriegstüchtigkeit (71 Einsendungen) und Technologieoffenheit (78 Einsendungen). Der deutliche Favorit aus der interessierten Bevölkerung war jedoch mit Abstand der Begriff Stolzmonat mit 982 Einsendungen. Für die Wahl zum Unwort des Jahres gelten jedoch vier Kriterien, die gegeben sein müssen, damit sich eine Einsendung qualifiziert.
Ein potentielles Unwort des Jahres muss:
– gegen die Menschwürde verstoßen.
– gegen Demokratieprinzipien verstoßen.
– diskriminieren oder stigmatisieren.
– irreführend bzw. euphemistisch sein.
Über diese vier Grundlagen hinweg müssen die Einsendungen gemäß der Webseite des Vereins auch „geäußert worden, eine gewisse Aktualität besitzen und der Äußerungskontext bekannt“ sein. Wenn Wörter diesen Ansprüchen genügen, beginnt die Jury ihre Tätigkeit und diskutiert darüber, ob und wann ein Wort Unwort des Jahres sein sollte. Die Bekanntgabe findet schließlich durch eine Pressekonferenz im Januar eines jeden Jahres statt.
Betrachtet man nun diese vier Kategorien, stellt man fest, dass diese keine klar definierten Regeln haben, sondern diskursbedürftig sind. Der Ausdruck Gamechanger wird in meinem Alltagsgebrauch eher situativ und apolitisch verwendet. Sollte bei einer Partie Mensch ärgere Dich nicht mein letzter Spielstein kurz vorm Zielfeld geschlagen werden, dann ist das für mich ein Gamechanger, denn diese Aktion wirft mich vor eine veränderte Herausforderung. Der sicher geglaubte Sieg rückt in weite Ferne, aber außer, dass ich mich ärgere, hat das ganze weder stigmatisiert, noch war es ein undemokratisches Verhalten.
Aktualität ist ein Betrachtungsmerkmal, das aktiv gegen den Stolzmonat spricht. Zwar war die ganze Kampagne ein Projekt, das aktiv gegen eine Menschengruppe gerichtet war und inhaltlich demokratiefeindliches Gedankengut propagiert hat. Gemäß des Kompetenznetzwerks Rechtsextremismusprävention handelt es sich bei dem Wort jedoch nicht um eine organische Schöpfung, sondern um einen Fall von Astroturfing, also eine künstlich erzeugte Bürger:innenbewegung. Entsprechend ist das Interesse und Auftreten des Begriffs zumindest in meiner Wahrnehmung auch relativ schnell wieder abgeflacht. Übrig geblieben sind vereinzelte Profilbilder der deutschen Flagge in sieben Farbunterstufen.
Aber kehren wir zurück zu den besten Begriffen für 2023. Sozialklimbim reiht sich hinter dem Vorjahresbegriff der Gratismentalität ein, jedoch war dieses Mal nicht FDP-Bundesvorsitzender Christian Lindner dafür verantwortlich, sondern der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler. Die Idee ist die gleiche: Beide Politiker verstehen sich als Mitglieder der Lobby der besserverdienenden Gesellschaftsteile.
Und diese haben meiner Meinung nach ein Anrecht darauf, dass ihre Meinung vertreten wird. Jedoch haben jene, welche von Armut gefährdet werden, ebenfalls ein Anrecht darauf, in der Regel aber eine viel schwächere Lobby. Dazu werden sie durch den Begriff des Sozialklimbims diffamiert. Dabei meint gerade dieser Begriff eigentlich die Kindergrundsicherung, also die Gewährleistung, dass jedes Kind die Möglichkeit erhalten kann, am Leben teilzuhaben. So sollen eigentlich vom „Sozialklimbim“ der Kindergrundsicherung etwa Schulbücher und Klassenfahrten subventioniert werden.
Der zweite Ausdruck, der in der engeren Auswahl stand, war der der Heizungs-Stasi. Die logisch naheliegendste Erklärung wäre der Gaszähler in unserer Wohnung, der genau mitzählt, wie viel Gas wir im Winter verheizen, jedoch ist mit dem Begriff etwas Anderes gemeint. Der Begriff bezieht sich auf einen Gesetzesentwurf von Robert Habeck, laut dem durch Wärmepläne besser geplant werden sollte, wie in einem gewissen Gebiet geheizt wird.
Der Ausdruck selbst wurde unter anderem vom Vorsitzenden der CDU Thüringen, Mario Voigt, geprägt. Dieser kritisierte damit aber vermutlich aus Versehen die regierenden CDU Landtagsfraktionen in Hessen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg, da diese bereits vor dem Gesetzesentwurf von Robert Habeck die Wärmepläne auf Landesebene gefordert und verabschiedet hatten (Kurze Zeit später kam auch noch die CDU NRW dazu). Die unreflektierte Selbstkritik an seinen Parteimitgliedern ist jedoch ein Selbstläufer geworden.
Damit kommen wir zum magischen Wort der Remigration. Remigration ist etwas, das es schon früher gab. Damit ist aber nicht gemeint, dass die AfD-Vorsitzenden von Sachsen-Anhalt, Martin Reichhardt (aus Niedersachsen), oder Brandenburg, Birgit Bessin (aus Rheinland-Pfalz), in ihre westdeutschen Heimatverbände geschickt werden sollen. Stattdessen gibt es sogar noch Klärungsbedarf bei jenen, die diesen Begriff prägen. Der Begriff ist dabei keine spontane Neuschöpfung, wie beispielsweise Heizungs-Stasi oder Sozialklimbim.
Bernd Höcke allein hat den Begriff bereits 2018 in seinem Buch verwendet. Gemeint ist damit die Rückführung von Menschen in ihre vermeintlichen Heimatländer. Für den Ausländer Martin Sellner trifft dies auch auf „nicht assimilierte Staatsbürger“ zu. Das heißt im Beispiel, dass der fiktive Nachbar Paul im beschaulichen Seelbach im Schwarzwald mit seinen Eltern aus Dormagen als nicht „deutsch genug“ angesehen wird, und, obwohl er in Deutschland geboren ist, genau wie seine Eltern, trotzdem des Landes verwiesen wird, weil seine Großeltern nicht hier, sondern in Yaoundé (Kamerun) geboren wurden. Und dann landet er in einem Land, dessen Sprache er nicht spricht, dessen Kultur er nicht wirklich kennt, aber Martin Sellner darf seiner eigenen Meinung nach in Deutschland bleiben.
Seiner vermeintlichen Definition nach ist er ausreichend assimiliert und muss nicht zurück in sein Heimatland Österreich (dessen Staatsangehöriger er immer noch ist). Migration beschreibt eine natürliche Wanderung, wie sie gerade bei Zugvögeln sehr gängig ist. Re bedeutet einfach nur zurück. Also kann rein von der Idee des Wortes unser Nachbar Paul nicht „remigriert“ werden; außer wir sprechen von Dormagen. Stattdessen wird der Begriff in einen Frame – also einen sprachlichen Rahmen – gepackt, der dem Begriff eigentlich nicht eigen wäre. Wenn jemand Paul aus Seelbach vorwerfen würde, gehe dahin, wo du herkommst, wird sicherlich nicht Dormagen gemeint sein. Stattdessen wird dabei der Begriff Remigration genutzt, aber der Frame ist deckungsgleich mit dem Begriff der Abschiebung.
Für Robert Lüdecke, Pressesprecher der Amadeu Antonio Stiftung, ist wichtig, dass Begriffe wie Remigration nicht einfach nur wiederholt werden. Stattdessen schreibt er, dass man immer klar benennen müsse, worin die wahre Bedeutung des Begriffs der Remigration, also der Abschiebung von teilweise willkürlich definierten Menschengruppen, liege.
Glossar
Kooptiert: Selbstergänzungs- oder Zuwahl. Ein zahlenmäßig begrenzter Kreis von Personen ergänzt oder erweitert sich in eigener Kompetenz um Neumitglieder.
Astroturfing: politische Public-Relations- und kommerzielle Werbeprojekte, die darauf abzielen, den Eindruck einer spontanen Graswurzelbewegung vorzutäuschen. Ziel ist es dabei, den Anschein einer unabhängigen öffentlichen Meinungsäußerung über Politiker, politische Gruppen, Produkte, Dienstleistungen, Ereignisse und Ähnliches zu erwecken, indem das Verhalten vieler verschiedener und geographisch getrennter Einzelpersonen zentral gesteuert wird.
Framing: der meist bewusst gesteuerte Prozess einer Einbettung von Ereignissen und Themen in Deutungsraster und Narrative bzw. Erzählmuster.