Meinen ersten Zugang als Grundschülerin zu den Verbrechen der Nationalsozialist:innen hatte ich durch eine Ausstellung über Anne Frank und das Buch „Die Geschichte der Anne Frank“, herausgegeben vom Anne Frank Haus. Später habe ich auch das komplette Tagebuch gelesen. Ihre Geschichte und ihre Worte treffen mich bei jedem Lesen so heftig wie beim ersten Mal und machen mich nicht nur betroffen, sondern auch wütend. Anne Franks Tagebuch ist aber nicht nur eines der wichtigsten Zeitzeugnisse der Gräultaten des Dritten Reichs, sondern auch literarisch ein ganz besonderes Buch.
Mich berührt jedes Mal aufs Neue, wie reflektiert und tiefsinnig Anne schreibt ohne ihre jugendliche Leichtigkeit und Naivität zu verlieren. Und der Lauf der Dinge, der Zufall oder das Schicksal, wenn man daran glauben mag, lassen sie ihr Tagebuch so schreiben, dass es eine fast schon unheimlich gute Dramaturgie aufweist: Es beginnt im selben Jahr, in dem sich die Familie verstecken muss, und endet mit einer bedrückend beeindruckenden Reflexion darüber, was für ein Mensch Anne sein will – bedrückend, angesichts der Entdeckung der Untergetauchten drei Tage später, die letztendlich zu Annes Tod führt.
Die klaren Worte, mit denen Anne Frank ihre Gedankenwelt, ihre Wünsche, Ängste und Träume – ja, ganz besonders ihren Traum Schriftstellerin und Journalistin zu werden – beschreibt und dass ihr Leben, ihre Träume, ihr Talent diesem Menschheitsverbrechen zum Opfer fielen, das entfacht so eine Wut, stellvertretend für die Millionen von Leben, die die Nationalsozialist:innen auslöschten.
Es ist vielleicht nicht die überraschendste Buchempfehlung, aber eine umso wichtigere.
Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch aufhören, einmal werden wir auch wieder Menschen und nicht allein Juden sein.
Anne Frank, Tagebuch
Wer mein Lesetagebuch über „Zusammen leben: Meine Rezepte gegen Kriminalität und Terror“ vom belgischen Bürgermeister Bart Somers gelesen hat, hat mitbekommen, dass ich dieses Buch nach der Hälfte abgebrochen habe, weil ich da schon das Gefühl hatte, alles zum dritten Mal zu lesen. Das Buch hat 217 Seiten, eine Kürzung um 100 Seiten hätte also durchaus geholfen, es zumindest zu Ende zu lesen. Ich finde ja, ein ausführliches Interview zum Thema wäre die bessere Darstellungsform gewesen.
Ein Buch, das noch 100 Seiten zusätzlich gebrauchen könnte, ist mir tatsächlich nicht eingefallen. Natürlich gibt es Bücher, in deren Welt man so eintauchen kann, dass man sie nie wieder verlassen möchte. Trotzdem sind diese Bücher meistens so gut, weil sie einen guten Aufbau haben, und 100 Seiten zusätzlich würden im Zweifelsfall eher schaden. Das Gefühl, unbedingt mehr von dieser Welt zu brauchen, und um das Ende zu trauern, ist schließlich ein wirkliches Qualitätsmerkmal.
„Drachenreiter“ von Cornelia Funke ist eine meiner großen Lieben in der Kinderliteratur. Eine Fantasygeschichte, die so liebevoll, warm und nahbar erzählt ist, dass es sich anfühlt, als müsse sie wahr sein. Wie in vielen Büchern von Cornelia Funke existiert diese Fantasie-Welt parallel zu unserer realen Welt und vermischt sich mit ihr. Drache Lung, Kobold Schwefelfell und später Menschenjunge Ben begeben sich auf die Suche nach dem Saum des Himmels, um die Drachen vor den Menschen in Sicherheit zu bringen. Sie stoßen dabei auf natürliche, fantastische und menschliche Gefahren und neue Freunde – ein fesselndes Abenteuer! Und, wie es charakteristisch für Cornelia Funke ist, beschreibt sie die Perspektive der Kinder einfühlsam und auf Augenhöhe. Ihre stimmigen und so treffenden Zeichnungen tragen ebenfalls dazu bei, dass man sich in diesem Buch herrlich verlieren kann.
Eigentlich sind sich die Cover von „Die Welt wie wir sie kannten“ und „Life as we knew it“ von Susan Beth Pfeffer sehr ähnlich: Ein viel zu großer Mond hängt bedrohlich über einem kleinen Haus im Schnee. Ich bin generell kein großer Fan von den meisten britischen und amerikanischen Buchbindungen, ich finde, sie wirken oft billiger als die deutschen. Das ist auch der Unterschied zwischen den beiden: Das deutsche Cover wirkt liebevoller gestaltet, die Schwärze des Mondes und der weiße Schnee im Dunkeln spiegeln die beklemmende Düsternis dieses Katastrophenromans besser wider als der weiße Mond und der bläuliche Schnee auf dem amerikanischen Cover.
Abgesehen davon ist diese Buchreihe (im Englischen Last Survivors) ebenfalls eine unterschätzte Perle im Bücherregal.
Wie auf den Covern angedeutet, ist hier der Mond die Ursache für die Katastrophe: Durch einen Meteoriteneinschlag wird er näher an die Erde geschoben und löst durch die stärkere Anziehungskraft Naturkatastrophen aller Art aus. Die Asche der ausbrechenden Vulkane verdunkelt den Himmel und führt zu einem frühen, langen und harten Winter und natürlich – schließlich wurde es von einer Amerikanerin geschrieben – versinkt auch die Freiheitsstatue gemeinsam mit Teilen New Yorks in der extremen Flut. Ich liebe solche Katastrophengeschichten, vor allem, wenn sie nah an den Protagonist:innen sind und mehr Wert auf „alltägliche“ Kämpfe und Lösungen legen als auf spektakuläre Rettungsaktionen. Besonders einprägsam sind mir diesbezüglich zwei Szenen in „Die Welt wie wir sie kannten“: ein intensiver Panik-Hamsterkauf im Supermarkt und das Leben im eingeschneiten Haus der Protagonisten-Familie.
I feel myself shriveling along with my world, getting smaller and harder. I’m turning into a rock, and in some ways that’s good, because rocks last forever. But if this is how I’m going to last forever, then I don’t want to.
Susan Beth Pfeffer, Life as we knew it

In dieser Kategorie ist eine Krimi-Reihe vielleicht nicht die naheliegendste Antwort. Doch was Gil Ribeiro, alias Holger Karsten Schmidt, in der „Lost in Fuseta“-Reihe macht, ist mehr als wirklich gute Unterhaltung. Es sind nicht der kreative Plot, einen deutschen Austauschkomissar mit Asperger-Autismus an die portugiesiche Algarve zu schicken und dort heimisch werden zu lassen, auch nicht die detailreich recherchierten Kriminalfälle, die immer wieder mit spannenden Wendungen und aufregenden Showdowns glänzen, die die Bücher zu Pageturnern und wahren Schätzen meines Bücherregals machen. Es ist die Sprache, mit der Ribeiro liebevoll die Algarve beschreibt, ihren Himmel, ihre Natur, ihre Menschen. Es sind die fein ausgearbeiteten Charaktere, die einem mit ihren Macken und Stärken ans Herz wachsen. Man meint sie vor sich zu sehen in Fleisch und Blut, sie so gut zu kennen als seien sie alte Freunde. Es ist der Humor, mit dem er diese Menschen beschreibt in den kleinen und großen Situationen des Lebens.
Für all das findet Ribeiro immer wieder unverbrauchte Worte, die das vermeintlich Selbstverständliche neu betrachten und erzählen. Poetisch schön ohne damit prahlen oder es auch nur hervorheben zu wollen.
Neben ihr saß ihr Kollege Carlos Esteves in einem beigen, wie immer zerknitterten Leinenjackett und knabberte an einem Hähnchenspieß, die Sonnenbrille ins halblange, lockige Haar geschoben. Er hatte aufgehört, sich bei den Überholmanövern Gracianas Sorgen um seine nähere Zukunft zu machen. Irgendwie hatte sie es immer fertiggebracht, sie lebend da durchzubringen. Und wenn er sterben sollte, weil er an ihrer Seite verunglückte, dann wenigstens mit einem nichts ahnenden Lächeln und etwas zu essen in der Hand. Es gab schlimmere Möglichkeiten zu sterben.
Gil Ribeiro, Lost in Fuseta Spur der Schatten
Vielleicht muss ich diesem Buch noch einmal eine Chance geben. Aber es hatte beste Startbedingungen: Ich wollte „Tintenherz“ lieben. Weil ich Cornelia Funke liebe, weil ich Bücher liebe, weil es nur gut werden kann, wenn Cornelia Funke über Bücher schreibt. Aber es ist eines dieser Bücher geworden, bei denen sich nie ein Lesefluss ergibt. Man macht längere Pausen, blättert beim nächsten Anlauf etwas zurück, schafft es nicht einmal so weit, wie man schon einmal war, und pausiert wieder. Am Ende kommt man vielleicht sogar durch, aber erinnert sich kaum an etwas, weil die vielen Pausen und teilweisen Revisionen die Geschichte zerhackt und zerrüttelt haben.
Es ist schon eine Weile her, dass ich dieses unerfreuliche Erlebnis mit „Tintenherz“ hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich immer das Gefühl hatte, es mögen zu müssen, es steckt zweifelsohne eine warme Liebe für Bücher darin und auch viele schöne Worte und Zitate. Aber so intensiv wie Meggie in die Geschichte eintaucht, so fern ist sie mir immer geblieben.
An manchen Büchern bleibt die Erinnerung, wo und wann man sie gelesen hat, haften. „Als gäbe es einen Himmel“ von Els Beerten habe ich zu Beginn des Teenageralters krank im Bett gelesen. Ich vermute, dass ich nicht alle 615 Seiten auf einen Schlag gelesen habe. Aber ich erinnere mich, dass ich ab irgendeinem Punkt fiebrig – nicht mehr von der Krankheit, sondern von der Anziehungskraft dieses Buches – im Bett saß und Kapitel für Kapitel verschlungen habe. Das Buch hat einen solch bleibenden Eindruck hinterlassen, dass ich es sogar in einen Vortrag in der Schule eingebracht habe.
Es erzählt die Geschichte zweier Freunde, die Helden werden wollen. Kriegshelden im zweiten Weltkrieg, als Teil einer flämischen Spezialarmee, die an der Seite der Deutschen an der Ostfront kämpft. Es erzählt aber auch die Geschichte von Renée, die den Freund ihres Bruders liebt, und zusehen muss, wie er in den Krieg zieht.
Diese Geschichte entfaltet sich nur langsam vor den Augen der Lesenden anhand verschiedener Perspektiven und Zeitstränge, nicht chronologisch, sondern wie ein Origami-Schwan, der von verschiedenen Seiten aus auseinander gefaltet wird und nach und nach offenbart, wie er entstanden ist.
Die Lola-Reihe von Isabel Abedi ist meiner Erfahrung nach eine der wenigen Reihen, die nicht nur die Qualität im Laufe der 9 Bände aufrecht erhält, sondern die sogar immer besser geworden ist. Isabel Abedi ist, ähnlich wie Cornelia Funke, sehr nah an ihren jungen Protagonistinnen. Nicht nur die Charaktere, auch ihre Geschichten sind auf Augenhöhe mit der Lebenswelt der Zielgruppe. Ob Sängerin, Journalistin, Detektivin, Schauspielerin, Tierretterin, Hochzeitsplanerin, Babysitterin, Sterneköchin oder Schriftstellerin – Lola träumt so groß, wie es vielleicht nur Kinder können, und tut alles, um ihre Träume zu verwirklichen. Sie kommt diesen Träumen auch näher – aber eben in der wirklichen Welt. Und das mit so viel Echtheit, Witz und Gefühl, das man schnell vom Lola-Zauber erfasst wird und ein wenig vom Glitzer der Einbände auch in seinem Leben verteilen möchte. Denn große Träume, die sich im Kleinen verwirklichen, sind manchmal noch viel schöner als die großen Luftschlösser.
Und so hat mich Lolas Familiengeschichte mit dem brasilianischen Papai, von dem sie ihre Locken und ihr Temparament hat, und der deutschen Mama, von der die helle Haut und die blonden Haare kommen, irgendwann inspiriert Portugieisch zu lernen und das Land wiederzuentdecken, in dem ich prägende Zeiten meiner Kindheit verbracht habe.
Diese Familienkonstellation, die noch davon gekrönt wird, dass Lolas Tante jünger ist als sie selber, und Oma und Opa eine etwas andere Rolle als gewöhnlich einnehmen, ist so liebevoll erzählt, dass man eigentlich in jedem Alter etwas davon mitnehmen kann. Wenn Kinderbücher Kinder ernstnehmen und ihnen komplexe Gedanken- und Gefühlswelten zutrauen, springt eigentlich auch immer ein gutes Buch für Erwachsene dabei heraus. Und das tut „Lola“ definitiv.

Ehrlich gesagt sind hier sowohl Titel als auch Cover kein Meisterwerk, sondern erfüllen fantasielos Klischees. Hinter „Missing. New York.“ versteckt sich aber eine spannende Suche nach einem siebenjährigen Mädchen in – Überraschung! – New York City. Ich habe diesen Thriller mit 16 gelesen und erinnere mich nicht mehr an alle Details, aber ich war auf jeden Fall gefesselt. Aus heutiger Sicht bin ich nicht ganz sicher, ob das daran lag, dass ich noch recht unerfahren mit dem Genre war. Ein kurzes Blättern zur Auffrischung ergab das Gefühl, dass auf jeden Fall ein spannender Plot sprachlich eindrucksvoll erzählt wird. Der Hauptcharakter, der hier direkt im Auftakt für eine ganze Reihe eingeführt wird, erscheint mir aber doch sehr stereotyp. Der harte Mann mit dem weichen Herz für Frauen und Mädchen im Kampf gegen das Unrecht – ich weiß nicht, ob mir das heute noch so gut gefallen würde. Allerdings würden dann die Cover-Klischees wieder Sinn ergeben. Naja.

Dieses Buch ist so sehr Teil meiner Persönlichkeit, dass es im Begriff ist, sich gänzlich aufzulösen und in mir aufzugehen – oder so. Es handelt sich um Weltliteratur, die tiefgründigen Schlüsselcharaktere sind Mama, Papa und Bobo Siebenschläfer. Dieses Buch hat meine Liebe zum Lesen erweckt, mehrere Reisen in die Tropen überlebt, obwohl die Seiten von der Luftfeuchtigkeit aufgequollen sind, ich habe es nahezu auswendig gelernt und meine ersten linguistischen Übungen damit veranstaltet: Was passiert, wenn man jeden Satz verneint? Was macht unterschiedliche Betonung mit Sätzen? Kann man eine Geschichte rückwärts erzählen? Ich war so begeistert, dass mir meine Mutter schwören musste, sie hätte mich „Bobo“ genannt, wenn sie das Buch schon vorher gekannt hätte. Zum Glück etablierte sich mein Wunsch-Künstlername nicht, heißt „bobo“ auf portugiesisch doch so viel wie „Narr, Tölpel“. Das wäre doch etwas zu viel Eingriff in meine Persönlichkeit gewesen.
